Gemeinde und Frömmigkeitsstil, die für die einen zur Heimat geworden sind, bleiben für die anderen völlig fremd.
Wenn ich heute in meiner Heimatgemeinde bin und meinem pensionierten Pfarrer bei der Gottesdienstmoderation lausche, verspüre ich auch Jahre nach meinem Wegzug ein großartiges Heimatgefühl. Das ist die Kirche, in und mit der ich groß geworden bin! Seit meinem 17. Lebensjahr bin ich dann immer wieder mit weiteren Christen, Gemeinden und Netzwerken aus den unterschiedlichsten Hintergründen in Kontakt gekommen. Total spannend! Inspirierend, aber auch herausfordernd. Da gab es natürlich einen gemeinsamen Kern – die Sache mit Jesus. Aber auch Unterschiede, die mir aufgefallen sind: in einigen Lehren und Glaubensaussagen, aber auch im Stil und Geschmack sowie im sozialen Hintergrund der Menschen, die ich bei einer Veranstaltung getroffen habe.
Die Sonntagsgottesdienste in meiner Kirchengemeinde liefen nach einer klaren Liturgie ab. Alte Lieder, kernige Predigt und neben ein paar Jüngeren besuchte hauptsächlich die grauhaarige Generation den Gottesdienst. Ganz anders bei den Freaks, die ich über ein Netzwerk von Christen in meiner Heimatstadt kennengelernt habe. Da konnte man gut rumhängen und handgemachte Musik genießen. Die Leute waren stylisch. Alles in allem eine entspannte und coole Atmosphäre. Der alternative Stil der Freaks hat mich begeistert. Da gab es keine grauen Kirchenmäuse, sondern eine bunte, kreative Gruppe von Menschen, die noch jenseits der Dreißig waren.
Mit einem Freund bin ich dann immer mal wieder zu charismatischen Events gegangen. Da ging man nicht in eine Kirche, sondern in ein ganz normales Haus inmitten eines Gewerbegebiets. Das war mir neu. Auch die stehenden Menschen mit erhobenen Armen, die Flaggentänze und spontanen Heilungen. Dort haben junge Familien, Menschen mit Migrationshintergrund und Typen mit total unterschiedlichen sozialen Hintergründen – arm und reich – ihre Heimat gefunden. Dadurch habe ich gelernt, dass es nicht die eine Heimat-Gemeinde gibt, sondern dass unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Gemeinden Heimat finden. Heimat-Gemeinde kann sehr verschieden sein. Was für die einen normal ist, schreckt die anderen ab oder ist ihnen einfach fremd.
Das Fremde lässt sich mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz erhellen. Dieser Ansatz setzt bei sozialen Milieus an. Ein soziales Milieu ist eine Gruppe gleichgesinnter Menschen [1], die gemeinsame Werte, Einstellungen, Geschmäcker und Mentalitäten hat. Ein soziales Milieu bezieht sich auf eine Gruppe innerhalb der Bevölkerung, die ähnliche Lebenslagen und einen ähnlichen Lebensstil teilen. Darunter werden unter anderem Bildung, Beruf und Einkommen gezählt. Diese Faktoren hängen mit dem Lebensstil eines Milieus zusammen, der sich als relativ stabiles Muster der alltäglichen Lebensführung verstehen lässt. So stiftet der Lebensstil Identität, schafft Zugehörigkeit zu einer Gruppe und lässt Menschen sich voneinander abgrenzen.
Da gibt es zum Beispiel die bürgerliche Mitte: typische Mittelschicht, der Familie und Leistung wichtig ist und die sich voll am Mainstream orientiert. Oder Postmaterielle: kosmopolitische Akademiker mit hohem sozialen und ökologischen Bewusstsein. Moderne Performer hingegen gehören zur hippen, jungen Leistungselite, die »irgendwas mit Medien« macht. Ganz unterschiedliche Menschentypen also, die sich aber theoretisch in Gruppen zusammenfassen lassen. Theoretisch, denn soziale Milieus gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie sind nur als Modell zu verstehen, das die Wirklichkeit beschreibt.
Die kirchensoziologische Forschung bedient sich des Milieuansatzes, um Veränderungen bei ihren Mitgliedern differenziert zu untersuchen und vorherzusagen. Der Ansatz hilft uns wiederum, wahrzunehmen, was Gemeinde und Glauben zur Heimat oder zur Fremde macht.
Soziales Milieu und Lebensstil prägen nicht nur das alltägliche Leben von Menschen, sondern auch ihr Christen-Dasein. Das beeinflusst ihre Erwartungen an einen Gottesdienst, an Musik, Kunst und Predigt. Sie sind milieuspezifisch verschieden. Nun könnte man sagen, diese Unterschiede sind gar nicht so wild, da sie sich auf Äußerlichkeiten beziehen und Streit übers Liedgut wird es immer geben. Nur – die milieuspezischen Unterschiede gehen tiefer und erstrecken sich über Dinge, die wir als zentral für unseren Glauben, für Kirche ansehen: Bibel, Glaube, Theologie oder ehrenamtliches Engagement. Für mich ist die typische »stille Zeit« sehr milieugeprägt, denn diese spirituelle Praxis hängt von einem bestimmten Lebensstil ab. Man liest routiniert einen Text in der Bibel und reflektiert innerlich, was dieser mit dem eigenen Leben zu tun hat. Doch wer außer Bildungsbürgern liest heute noch Bücher?! Wie stehen Menschen unterschiedlicher Milieus zu Routine, Innerlichkeit und Selbstreflektion?!
Ja, Lebensstil und soziales Milieu prägen das Glaubensleben. Das fordert mich heraus, ein weites Herz für unterschiedliche Frömmigkeitsstile und Glaubensformen zu haben und nicht alle Christen in mein – zugegebenermaßen milieugeprägtes – Schema zu pressen. Glaubensformen, die für einige Christen Heimat sind, bleiben mir fremd, so wie ich das einmal während der Heiligenlitanei einer katholischen Messe erlebt habe.
Ich möchte jedoch meinen Glauben auch so ausdrücken und leben können, dass Menschen jeden Lebensstils ihn mit mir teilen können. Was also tun?
Die Forschung hat weiterhin herausgefunden, dass bestimmte Milieus in der Kirche überrepräsentiert sind und damit das Gemeindeleben dominieren. Sie gehen sonntags frohgemut in den Gottesdienst, der für andere Milieus total unattraktiv wirkt, weil er morgens um zehn Uhr beginnt und von einer Kultur durchdrungen ist, die nicht zu ihnen passt. Aha, es gibt also eine dominierende Kultur in den verschiedenen Gemeinden. Problematisch ist allerdings, dass diese dominierende Kultur ein Magnetfeld bildet. Sie ist eine Art Ekelschranke für andere Menschen, denn Lebensstile wirken abgrenzend.
Die Mittelschicht möchte zum Beispiel weder bonzig noch asozial sein und grenzt sich von beiden Extremen ab. Nur bestimmte Menschen werden von einer bestimmten Kultur angezogen. Fatal: Je wohler sich die einen fühlen, desto mehr werden andere abgestoßen. Die traditionelle Liturgie zieht an und schreckt ab. Es gibt Milieus, die mit postmodernen Gemeindeformen nichts anfangen können und Milieus, denen charismatische Gottesdienste viel zu ungeordnet ablaufen. Wie Kräfte eines Magnetfelds eben.
An einem Sonntag habe ich das ziemlich eindrücklich erlebt. Ich habe in einem Gottesdienst in einer kleinen landeskirchlichen Gemeinschaft gepredigt. Dort gibt es hauptsächlich Senioren. Gemeinsam mit den grauen Schöpfen habe ich den Schöpfer mit alten Glaubensliedern gepriesen. Der Saal ist grünlich-gelb gestrichen, Kanzel und Holzelemente zur Deko stammen aus alten Zeiten und die Blumendeko besteht aus Plastik. Eine Kultur, die eindeutig von einem Milieu geprägt und dominiert ist.
Direkt nach dem Gottesdienst habe ich mit Freunden ein Akustikkonzert in einem Hipstercafé mit Retroflair besucht. Auch wenn die Einrichtung ähnlich war, wären die Leute aus dem Café nie in den zuvor besuchten Gottesdienst gekommen. Ich vermute, dass sie Kultur und Lebensstil dort eher abgestoßen hätten. Schade. Ich wünsche es mir nämlich sehnsüchtig, dass sie ihre Heimat in christlichen Gemeinden finden.
Nun sind die einzelnen Gemeinden herausgefordert, das Fremde anderen zugänglich zu machen. Ich meine: Es muss doch gelingen, unseren Glauben gegenüber Menschen anderer Milieus zu vermitteln. Dazu müssten wir uns in unserer Milieugebundenheit bewusst werden und sie reflektieren. Dann müssten wir noch gegenüber anderen Milieus sprachfähig werden und uns ganz auf sie, ihre Kultur und Logik einstellen – und so könnten wir an der Mission des heruntergekommenen Gottes teilhaben.
Kathinka Hertlein wohnt in einer Lebensgemeinschaft in Nürnberg und reist als Kinder- und Jugendreferentin im EC Bayern durch die Gegend. Sie mag koffeinhaltige Heißgetränke, Bücher, ihre Freunde und Kochen.